Wer ist hier eigentlich behindert?

Ein weiteres Juwel im Schlagwort der peinlichen Situationen. Aber für wen war es wirklich peinlich?
Nach meiner üblichen Dienstagstherapie kam ich auf dem Weg zum Büro in die Post. Wahrscheinlich musste ich wieder einmal einem Widerspruch wegen einer abgelehnten Verordnung an die Krankenkasse senden.
Die Schlange war ziemlich lang und dafür auch genug langsam. Die Ungeduld war schon in der Luft spürbar.
In einer solchen Situation stürmte ein Mann herein und wollte vor mir in der Schlange. Ich habe keine Eile gehabt, so ließ ich ihn herein. Er hielt einen großen A4-Umschlag in der Hand, der an eine Klinik gerichtet war. Mein Blick fiel darauf, da ich seit der Lähmung viel mehr so etwas bemerke, weil ich selbst viel mit der Gesundheitsversorgung zu tun habe.
Aber zurück zum Punkt. Dem Mann hinter mir ging es mit der Zeit wahrscheinlich weniger gut. Oder mit der Geduld. Er äußerte dies auch und signalisierte es dem Mann vor mir. Der Streit ging weiter, bis sie sich schließlich darüber stritten, wer einen höheren Grad der Behinderung hatte und wer berechtigt ist, sich in einer Schlange vorzudrängeln.
Zuerst war ich fassungslos. Dort sitze ich als Frau im Rollstuhl und zwei gesunde Männer die über meinem Kopf hinweg diskutieren, um herauszufinden, wer „behinderter“ ist. Das Leben ist grauenhaft. Der Schock ist inzwischen vorbei, aber ich lächle immer, wenn ich mich daran erinnere.
Was ist die Lektion? Es gibt Keine. Es ist nur eine winzige Episode aus dem Alltag, und die Hauptrolle hat die Ungeduld und die Unaufmerksamkeit. Ich bin auch unaufmerksam, ich bemerke die Details nicht. Manchmal die Hauptsache auch nicht.
Aber mit Geduld komme ich wegen des Rollstuhls derzeit klar. Ich würde ungerne „dank für den Rolli“ sagen, weil ich dafür nicht dankbar bin. Ich wäre lieber die Unduldsame auf zwei Füßen. Wieder.

